KRANKENVERSICHERUNG Nie mehr zweite Klasse

KRANKENVERSICHERUNG Nie mehr zweite Klasse

In Deutschland steht eine Revolution bevor: Die Zeit der privaten Krankenversicherung neigt sich dem Ende zu. Was kommt nun?

Ein Mann rennt. Wahrscheinlich schwitzt er auch, man weiß es nicht, weil auf dem Fernsehschirm minutenlang nur Beine zu sehen sind. Der Werbespot endet mit einer berühmten Zeile: »Am 31. ist Wüstenrot-Tag!« Klar, warum der Mann so rennt: Bis zum Stichtag muss er etwas Dringendes bei seiner Bank erledigen.

Der kleine Film wurde dreißig Jahre lang in verschiedenen Versionen im Fernsehen gezeigt. Ein Klassiker, der neuerdings sozialdemokratische Politiker inspiriert. »Wüstenrot-Tag« nennen sie bei der SPD einen Stichtag, an dem eine neue Ära für den deutschen Sozialstaat anbrechen soll. Der »Wüstenrot-Tag« soll das Ende der Zweiklassenmedizin einläuten: den Abschied von einem Gesundheitswesen, in dessen Wartezimmern, Reha-Kliniken und Operationssälen zwischen Kassenpatienten und Privatversicherten unterschieden wird.

Entschieden wird zwar frühestens nach der nächsten Bundestagswahl im Herbst 2013, aber in diesen Wochen und Monaten kippt die Stimmung – in der Politik, in den Medien, bei den Versicherten und sogar in Teilen der Versicherungsbranche. Die private Krankenversicherung (PKV), so wie sie im Augenblick besteht, gilt nicht mehr als zukunftstaugliches Modell. Eine klassenlose Gesellschaft zeichnet sich ab, wenn auch nur im Gesundheitssystem.

Der CDU-Gesundheitsexperte Jens Spahn wirbt gerade in seiner Partei dafür, eine neue Versicherung für alle zu konzipieren, ohne Zweiklassenmedizin. »Das derzeitige Nebeneinander von zwei Systemen ist nur noch historisch zu begründen und hat kaum noch Akzeptanz«, sagt er. »Die private Krankenversicherung wird sich verändern müssen.«

In der SPD sind die Reformpläne schon weit gediehen, sie sind allerdings weniger radikal als noch vor einigen Jahren. Auf ihrem Parteitag im Dezember 2011 beschlossen die Genossen ein Konzept, das, wie Gesundheitsexperte Karl Lauterbach meint, »auch ein attraktives Angebot für wechselwillige Privatversicherte sein soll«. Das Modell ist einfacher, Härten für Gutverdiener wurden trotz des Protestes des linken Parteiflügels gestrichen.

Es geht dabei nicht um eine Abschaffung der privaten Krankenversicherung per Dekret, sondern darum, dass für alle Versicherungen dieselben Regeln gelten – für die Erhebung der Beiträge oder die Bezahlung von Arzthonoraren. Wenn die Reform in Kraft tritt, soll es nach den SPD-Plänen in Deutschland möglich sein, zwischen privaten und gesetzlichen Versicherungen hin und her zu wechseln, bis zum »Wüstenrot-Tag« eben. Das gab es bisher noch nicht. Denn so entstünde ein Wettbewerbsdruck, bei dem nur noch die Kassen überleben, die ein wirklich überzeugendes Angebot vorlegen.

Als Vorbild gelten die Niederlande, wo die Regierung 2006 etwas Ähnliches entschied: Jeder Fünfte der sechzehn Millionen niederländischen Versicherten wechselte damals innerhalb weniger Wochen seinen Anbieter. Bei vielen Kassen standen zwei Monate lang die Telefone nicht still. Einige Versicherungen verloren auf einen Schlag mehrere Hunderttausend Kunden, bei anderen mussten die Mitarbeiter auch nachts arbeiten, um mit der Beratung neuer Mitglieder hinterherzukommen.

In Deutschland gehören heute ungefähr 85 Prozent einer gesetzlichen Krankenkasse an mit ihren einheitlichen Leistungen für alle, der kostenlosen Absicherung für Familienangehörige und Beiträgen, die vom Einkommen abhängen. Der Rest, etwa 8,9 Millionen Menschen, hat einen Vertrag mit einer privaten Krankenversicherung wie der Debeka oder der DKV. Diese Versicherten bekommen Rechnungen vom Zahnarzt oder Krankenhaus, die sie einreichen müssen. Ihre Beiträge werden Prämien genannt, die Höhe hängt vor allem vom Krankheitsrisiko und vom Leistungsumfang ab. Meistens verdienen Ärzte und Kliniken besonders gut an Privatversicherten, die deswegen oft schneller Termine bekommen als Kassenpatienten.

Lange schienen die Unterschiede zwischen beiden Welten ständig größer zu werden. Schmucke Arztpraxen und Kliniken eröffneten, die ausschließlich Privatversicherte annahmen. Patienten zweiter Klasse mussten, getrennt von den Privaten, in ihren kargen Wartezimmern oft länger sitzen. In den Genuss bestimmter, besonders aufwendiger Behandlungen kam meist nur noch die erste Klasse – Kassenpatienten durften dafür extra zahlen.

Neuerdings jedoch wenden sich mehr und mehr junge, gut verdienende Versicherte an Beratungsstellen: Sie suchen nach einem Ausweg aus dem privaten System. Melanie Taprogge ist eine von ihnen: »Mir ist die Freiheit genommen, selbst zu entscheiden«, klagt die 37-jährige Frau aus Berlin. Als Angestellte im öffentlichen Dienst war sie lange eine zufriedene Kassenpatientin, dann wurde sie Beamtin und wechselte in die PKV. Als Kassenpatientin hätte sie den Höchstsatz zahlen und auf die Beihilfe verzichten müssen.

Das war vor eineinhalb Jahren. Inzwischen ist Melanie Taprogge aber wieder angestellt, sie hat einen Führungsposten bei der Telekom und will zurück in die gesetzliche Krankenversicherung. Sie lässt ihren Fall von der AOK prüfen, obwohl sie dort sogar einen deutlich höheren Monatsbeitrag zahlen müsste. Vermutlich wird das aber nicht gelingen. Ihr Einkommen liegt über der sogenannten Versicherungspflichtgrenze. Daher ist der Wechsel nicht erlaubt. »Vielleicht gibt es doch eine Regelungslücke«, hofft sie nun.

Der Fall Taprogge zeigt: In Deutschland sind neuerdings nicht mal mehr die vermeintlichen Luxuspatienten zufrieden. Die private Krankenversicherung hat immer weniger Anhänger:

Die Versicherten klagen über exorbitant hohe Beiträge für alte Menschen, schnell steigende Prämien für die Jungen und über Rechnungen, die nicht komplett ersetzt werden. Axel Kleinlein, Chef des Bundes der Versicherten, schätzt, dass mindestens jeder vierte Privatpatient ins gesetzliche System wechseln möchte. Momentan sei dieser Wunsch in Beratungsgesprächen das »Thema Nummer eins«, weil zur Jahreswende viele Prämien gestiegen sind.

Mit den Klagen ändert sich das öffentliche Bild der PKV, deren Versicherte vor Kurzem noch als Gewinner galten. »Es ist an der Zeit, mit dem Mythos vom privilegierten Privatpatienten aufzuräumen, er ist oft ein armes Schwein«, notierte der stern.

Die Versicherungsunternehmen kommen mit dem steigenden Kostendruck nicht zurecht und haben sich zuletzt sehr ungeschickt verhalten. Die einen ruinieren vor lauter Sparzwang ihren Ruf bei den Kunden; andere haben erfolglos mit Billigtarifen für junge Kunden experimentiert. Was fehlt, ist eine überzeugende Vision.

Ohnehin steckt hinter der Aufteilung des Marktes in gesetzliche Kassen und private Versicherungen keine schlüssige Idee. Die Trennung verläuft weder zwischen Arm und Reich noch zwischen Freunden des Marktes und staatstreuen Kassenfans, wie häufig unterstellt wird. Unterschieden wird nach Berufsgruppen: Angestellte gehören ins Kassensystem, sofern sie nicht gut verdienen und freiwillig wechseln. Beamte und Selbstständige versichern sich bei den Privaten. Immerhin 47,5 Prozent aller Privatversicherten sind Beamte, die oft weniger verdienen als der durchschnittliche Kassenpatient. Momentan verkündet die PKV zwar stolz, dass ihre Mitgliederzahl wachse – mit Marktwirtschaft hat das aber weniger zu tun als mit staatlicher Personalpolitik: Die Länder heben gerade viele Mitarbeiter in den Beamtenstand. Das bedeutet automatisch Zuwachs für die PKV.

Harten Wettbewerb findet man zwischen privaten Versicherungen seltener als zwischen den gesetzlichen Krankenkassen, aus einem einfachen Grund: Kassenpatienten können leichter wechseln. Der Sprung von der Barmer zur AOK oder umgekehrt ist keine große Sache. Die PKV jedoch baut Altersrückstellungen auf. Sie legt einen Teil der Prämien für die Altersjahre ihrer Kunden zurück, die beim Wechsel des Versicherers verfallen. Deshalb ist die Kündigung für langjährige Versicherte ein schlechtes Geschäft.

»Gerade junge Menschen unterschätzen, dass sie sich an ihre private Versicherung praktisch bis ans Lebensende binden«, warnt Ilona Köster-Steinebach, Gesundheitsexpertin beim Bundesverband der Verbraucherzentralen. Sie wirft den PKV vor, gerade junge Selbstständige mit niedrigen Prämien zu locken, die später schnell steigen und die Versicherten schnell überfordern. Über die Frage, ob sie manchmal auch die Privaten empfehle, kann sie nur lachen: »Wenn Sie gut verdienen, total sicher sind, dass das lebenslang so bleibt, und wenn sie außerdem keine Kinder haben – dann können wir Ihnen die PKV empfehlen. Aber wer weiß das alles schon so genau?«

Die Sorge um rasche Prämiensteigerungen im Alter besteht zu Recht – auch wenn die Privatversicherungen stolz auf ihre Altersrückstellungen verweisen und auf neuartige Tarife, bei denen die Kunden besonders viel fürs Alter zurücklegen können. Beides aber wird steigende Kosten nicht ausgleichen können.

Lange existierte für die PKV das Problem der finanziell hoch belasteten älteren Menschen kaum. Bis zur Jahrtausendwende konnten Privatversicherte in jungen Jahren erst die niedrigen PKV-Tarife genießen und dann im Alter ins gesetzliche System wechseln. Diese Möglichkeit schaffte Rot-Grün im Jahr 2000 ab.

Noch heute hat die PKV jüngere Versicherte als die gesetzliche Konkurrenz, aber dank der neuen Regelung wird der Unterschied kleiner. Man wird ihn kaum spüren, wenn die geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand wechseln. Und dann bekommen viele Babyboomer als Privatversicherte ein doppeltes Problem: Sie erhalten weniger Rente und müssen davon steigende Gesundheitskosten finanzieren. Im Alter zahlt der Arbeitgeber nicht mehr die Hälfte der Beiträge, deshalb sind die Lasten viel größer als bei Kassenpatienten, deren Beitrag von der Rentenhöhe abhängt. Am schlimmsten wird es geringverdienende Selbstständige treffen, denen ohnehin meistens eine gute Alterssicherung fehlt.

Ihnen droht, was Marcelle Englebert schon jetzt erlebt. In etwa zwei Jahren sind alle Ersparnisse der 65-jährigen Rentnerin aus Frankfurt aufgezehrt, dann wird sie ihre Krankenversicherung nicht mehr bezahlen können. »Ich habe Angst«, sagt sie. »Ich will doch kein Sozialfall werden.« Englebert hat fast fünfzig Jahre lang gearbeitet, zehn Jahre war sie Stewardess, später Bankkauffrau. Mit 58 Jahren ging sie in den Vorruhestand, sie hatte schlimme Entzündungen in Arm und Schulter und konnte nicht mehr arbeiten. Ihre Rente wurde um rund zehn Prozent gekürzt auf rund 1.100 Euro pro Monat.

Davon zahlt Englebert 435 Euro für ihre private Krankenversicherung, obwohl sie einen Tarif ohne Zusatzleistungen und eine Selbstbeteiligung von 3.800 Euro im Jahr gewählt hat. Um Versicherungen, Miete und Essen bezahlen zu können, legt die Rentnerin jeden Monat etwas von ihrem Ersparten dazu. Nun sind die Rücklagen fast aufgebraucht, und sie weiß nicht, wie es weitergehen soll. »Ich gehe schon gar nicht mehr zum Arzt«, sagt sie. Sie braucht dringend eine Zahnbehandlung, zwei neue Kronen, aber das kann sie sich nicht leisten. Wegen der hohen Selbstbeteiligung müsste sie alles selbst bezahlen.

Früher ließen sich Lebensläufe besser planen – das ist einer der Gründe für die steigende Unzufriedenheit der Privatpatienten. Selbstständige rutschten seltener in die Armut, Ehen wurden seltener geschieden. Deshalb gab es weniger Schicksale wie das von Angelika Zegelin. Die 57-Jährige aus Recklinghausen ist schwer krank und hat keinen Versicherungsschutz – ohne eigene Schuld. Sie gehört zu einer Gruppe, die im bestehenden Zweiklassensystem besonders schlecht wegkommt: Es sind die geschiedenen Frauen von Beamten. Für sie ist die geltende Rechtslage der blanke Horror: Während der Ehe sind sie über den Ehemann gut abgesichert und müssen sich nach der Scheidung neu privat versichern, oft zu extrem ungünstigen Bedingungen, obwohl sie von wenig Unterhalt oder Rente leben.

Angelika Zegelin war Mitte der Neunziger über ihren Mann in die private Krankenversicherung gekommen. Davor hatte sie fast dreißig Jahre lang in die gesetzliche Kasse eingezahlt. Vor zehn Jahren trennte sich ihr Mann von ihr, Zegelin konnte aber nicht in ihre alte Kasse zurück. Sie ist zu alt für den Wechsel und muss weiterhin die Kosten der privaten Versicherung tragen. Nach mehreren Operationen ist sie zu 80 Prozent behindert und benötigt ärztliche Hilfe, kann aber ihre Beiträge nicht bezahlen. Sie bekommt 700 Euro Rente, 600 Euro davon soll sie an die Krankenversicherung abgeben. Seit einem Jahr hat sie kein Geld mehr überwiesen und verzichtet auf Arztbesuche. Noch geht das, aber die alte Frau hat Angst davor, dass ihr Zustand sich verschlechtert.

Die private Krankenversicherung fühlt sich durch solche Fälle überfordert. Dass es verzweifelte Menschen gibt, die im gesetzlichen System besser aufgehoben wären, bestreitet auch dort niemand. Doch andererseits könne man nicht für jede Scheidung, jede Unfähigkeit, für das Alter angemessen vorzusorgen, und auch nicht für jede Unternehmenspleite eines Selbstständigen die Verantwortung übernehmen, heißt es beim Berliner Branchenverband. Eigentlich sieht man sich als Dienstleister für eine Elite, die nicht nur bereit, sondern vor allem in der Lage ist, für bessere Leistungen mehr zu zahlen, auch im Alter.

So hatte die private Krankenversicherung ihre Existenz jahrelang begründet: als Luxusangebot für Gutverdienende, das vielen Ärzten zusätzliche Einkünfte verschaffte und nebenher auch noch die gesetzlichen Krankenkassen mit seinen umfangreichen Angeboten unter Druck setzte. »Dass die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland mehr Leistungen anbietet als fast alle anderen Gesundheitssysteme der Welt, hat ganz klar auch mit der Konkurrenz durch uns zu tun«, sagt Volker Leienbach, Direktor des PKV-Verbandes. Viele Jahre teilten Gesundheitspolitiker aller Parteien diese Sicht, die an das Argument erinnert, nur die Nachbarschaft zur sozialistischen DDR habe den umfangreichen westdeutschen Sozialstaat der Nachkriegsjahre möglich gemacht.

Doch aus zwei Gründen stimmt das Selbstbild der Branche heute nicht mehr. Die Versicherten haben sich verändert – und die Kostensteigerungen sind kaum noch in Grenzen zu halten. Beides haben die Unternehmen mitverschuldet. Einige Anbieter, die Central Krankenversicherung beispielsweise, haben in den vergangenen Jahren gezielt mit Prämien unter hundert Euro um junge Selbstständige geworben, denen aber häufig eine solide wirtschaftliche Basis fehlte. Inzwischen klagt die Branche laut über Nichtzahler, die ihre Prämien nicht überweisen, denen die Versicherung laut Gesetz aber nicht kündigen dürfe. Jetzt will die Bundesregierung mit einem Gesetz die Verluste der Branche begrenzen, doch für einige Anbieter kommt das zu spät.

Dann gibt es noch einen anderen Typ von Versicherten, die oft unzufrieden sind: Kunden, die der Branche vom Gesetzgeber vor drei Jahren mit einer Versicherungspflicht für alle aufgezwungen wurden. Die PKV-Unternehmen dürfen seit 2009 niemanden mehr abweisen, sie müssen Verträge mit dem sogenannten Basistarif anbieten, der allerdings mit knapp 600 Euro Monatsprämie für Leistungen unter dem Niveau der gesetzlichen Krankenkassen sehr teuer ist. »Wer den Basistarif nutzt, hat oft Schwierigkeiten, einen Arzt zu finden, der ihn behandelt«, warnt die Berliner Anwältin Sabrina Sokoloff. »Es ist ein Loser-Tarif, zu dem man nicht raten kann, wenn es eine Alternative gibt.«

Reinhard von Zuccalmaglio hatte keine Wahl. Der Pensionär aus Frankfurt hatte früher gar keine Versicherung. Für den ehemaligen Beamten beglich die Beihilfe 70 Prozent jeder Arztrechnung, den Rest zahlte er selbst aus seinem Ersparten. Doch als die Versicherungspflicht eingeführt wurde, brauchte von Zuccalmaglio wieder eine Privatversicherung.

Die Allianz schlug ihm, wegen früherer Krankheiten, eine Monatsprämie von 6.255 Euro vor. Von Zuccalmaglio wehrte sich, er schrieb an die Aufsichtsbehörden, verlangte eine genaue ärztliche Prüfung seines Gesundheitszustands. Am Ende korrigierte sich die Versicherung nur in einem Punkt: Da von Zuccalmaglio Beihilfe beziehe, betrage der Risikozuschlag 1.859 Euro. Der Pensionär verzichtete trotzdem – er begnügte sich mit dem billigen Basistarif.

»Wir brauchen ein System, in dem jeder seine Versicherung selbst aussuchen kann«, fordert von Zuccalmaglio. Vor ihm in seiner Frankfurter Wohnung liegt ein weißer Ordner, in dem Dutzende von Rechnungen abgeheftet sind. Oft muss er wegen der Erstattung kleinster Beträge korrespondieren – so ist das nun mal im Billigtarif. Mitte Januar teilte ihm die Allianz mit, dass er für ein Medikament zehn Cent zu viel bezahlt habe. Es hatte 12,52 Euro gekostet. »Sie haben ein Arzneimittel zur Erstattung eingereicht, dessen Preis den gültigen Apothekenverkaufspreis überschreitet«, schrieb die Allianz.

Lange zahlten die privaten Krankenversicherungen oft auch dann, wenn sie nicht mussten. Darauf kann heute niemand mehr zählen. Seit fünf Jahren sitzen im Anwaltsbüro von Sabrina Sokoloff regelmäßig Privatversicherte, die wegen der Erstattung von Leistungen prozessieren. »Das gab es früher gar nicht«, sagt die Juristin. »Man merkt den Kostendruck in der Branche ganz extrem.« Regelmäßig wird dieser Druck in Prämienerhöhungen weitergegeben. »Im ersten Moment denkt man an Abzocke«, sagt Uwe Scherer. In den vergangenen drei Jahren hat sich sein Versicherungsbeitrag fast verdoppelt, Anfang 2010 zahlte er 118,25 Euro monatlich, inzwischen sind es 227,35 Euro – bei einem Tarif mit einer Selbstbeteiligung von 3.500 Euro im Jahr. Der 55-jährige Makler entschied sich Anfang der achtziger Jahre für eine private Versicherung mit besonders niedrigen Beiträgen, zunächst war er auch sehr zufrieden. »Ein echter Rolls-Royce-Tarif« erinnert er sich. Nun ist er »stinksauer«, schließlich stieg im Vorjahr sein Beitrag um 45 Prozent, im Jahr 2010 um knapp 40 Prozent – zunächst bekam der Versicherte nicht einmal eine Begründung dafür.

Noch eine dritte Gruppe von unzufriedenen Versicherten ärgert sich, sie zieht aber seltener vor Gericht: die überversorgten Privatpatienten, an denen Ärzte herumdoktern, um zu verdienen. So bestreiten Politiker auch nicht mehr, dass durch das Nebeneinander von privaten und gesetzlichen Kassen Geld oft falsch eingesetzt wird, jedenfalls nicht so, wie es der Gesetzgeber beiden Systemen vorschreibt: für das »medizinisch Notwendige«.

»Es gibt gleichzeitig eine Über- und Unterversorgung«, sagt der Professor für Gesundheitsökonomie und Bundestagsabgeordnete Karl Lauterbach. Zehn Jahre sind vergangen, seit er in einer Expertenkommission der damaligen rot-grünen Bundesregierung ein Gegenmodell zur Zweiklassenmedizin erfand: die Bürgerversicherung. Weg mit allen Unterschieden zwischen Privat- und Kassenpatienten – das war Lauterbachs Vorschlag. So einfach, so revolutionär. Alle Bürger sollten Mitglieder im Solidarsystem werden.

Für die Idee gab es zunächst wenig Unterstützung. Der damalige Kommissionschef Bert Rürup wollte ebenfalls eine große Reform, aber ein ganz anderes Modell, die sogenannte Kopfpauschale, für die sich später Angela Merkel als Bundeskanzlerin einsetzte. Auch die SPD war nicht begeistert. Als Gerhard Schröder erfuhr, dass die Professoren seiner Expertenrunde sich wieder einmal nicht einig waren, tobte er und kündigte an, er werde die Kommission auflösen, falls das so weitergehe. Aber seitdem ist die Idee, der in Umfragen immer viele Bürger zustimmten, immer noch auf dem Tisch. Lauterbach, damals noch hauptamtlich Hochschullehrer und eher ein Neuling in der Politik, tourte gemeinsam mit Andrea Nahles durch seine Partei, um für die Idee zu werben. Die Grünen und die Linkspartei entschieden sich für ein ähnliches Modell.

Heute ist seltener von der Bürgerversicherung die Rede – dabei war es nie so wahrscheinlich wie heute, dass es sie oder ein vergleichbares System tatsächlich in Deutschland geben wird. Falls SPD und Grüne gemeinsam regieren sollten, ist dies so gut wie sicher. Aber selbst im Fall einer Großen Koalition werden viele Unterschiede zwischen beiden Gesundheitswelten, zwischen Kassen und Privatversicherungen verschwinden. »Viele Kassen im Wettbewerb, keine Einheits-AOK«, fordert Jens Spahn, CDU. Aber gleiche Spielregeln für alle Versicherten will auch er. Mit dem CSU-Landesminister Markus Söder hatte er schon einen gemeinsamen Vorschlag entworfen, bevor der von der Gesundheits- in die Finanzpolitik wechselte. Gut möglich jedenfalls, dass die Union nach Mindestlohn, Elterngeld und Wehrpflicht mit der Bürgerversicherung am Ende ein weiteres Thema der Opposition übernimmt. »Am Ende«, glaubt Spahn, »werden große Reformen in Deutschland oft von der Partei gemacht, von der man es nicht erwartet.«

Voraussetzung dafür, dass die Professorenidee von einst Realität werden kann, ist allerdings die Wahlfreiheit der Versicherten und eine neue Vergütungsordnung für Ärzte. Zur Idee der Bürgerversicherung gehört, dass ein Arzt an Patienten der beiden Versicherungssysteme gleich viel verdient. Dann ist Schluss mit der Zweiklassenbehandlung, und die PKV wird automatisch weniger attraktiv. Dafür muss die Regierung die Regeln ändern – und dafür sorgen, dass die Ärzte an Kassenpatienten mehr verdienen als vorher. Sonst wäre die Bürgerversicherung für die Ärzteschaft eine brutale Einkommenskürzung.

Die Freiheit, die Kasse zu wechseln, ist ebenso wichtig. Dafür gäbe es dann den »Wüstenrot-Tag«. Lauterbach rechnet damit, dass ein großer Teil der Privatpatienten dann in das gesetzliche System abwandert – ältere ohnehin, weil sie weniger zahlen müssten, aber auch viele jüngere Menschen wie Taprogge, die das Solidarsystem schätzen, hohe Alterslasten vermeiden wollen oder sich schlicht das Einreichen von Quittungen sparen wollen.

Die privaten Versicherungen würden dadurch weniger geschwächt, als es auf den ersten Blick scheint: Wer von der privaten zur gesetzlichen Versicherung wechselt, müsste auf seine Altersrückstellungen verzichten. Die Kriegskasse der Privaten würde also mit jedem Abgang aufgestockt – und würde deren Chancen verbessern, in einem neuen Versicherungsmarkt zu bestehen.

Einige Bürger planen schon fest mit der neuen Versicherungswelt, der Rentner Günter Held beispielsweise. Er ist »vor der Versicherungspflicht geflohen«, wie er sagt – nach Sri Lanka. Wer in Deutschland keinen Wohnsitz hat, muss sich nicht privat versichern. Held hat früher in der Versicherungsbranche gearbeitet, er kennt sich aus, und als die neue Versicherungspflicht für alle eingeführt wurde, beschloss er, kein Geld für eine schlechte Absicherung im Basistarif ausgeben zu wollen. Er fühlt sich wohl in Asien, und er hat auf diese Weise knapp 600 Euro mehr zum Leben. Und er rechnet fest damit, dass er in einigen Jahren zurückkehren wird, weil im deutschen Gesundheitssystem dann ganz andere Regeln gelten. Fast egal, welche Mehrheit dann regiert.

 

QUELLE: DIE ZEIT, 2.2.2012 Nr. 06

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